Verantwortung und Verwundbarkeit

Was heißt: verantwortlich sein? Beginnen wir dort, wo uns diese Wendung im Alltag begegnet. Ich begehe einen Fehler, fahre über eine rote Ampel, klaue im Supermarkt oder dergleichen und nun habe ich mich für diese Handlung im Nachhinein zu verantworten. Das heißt, ich bin eine Antwort schuldig oder ich bin verpflichtet zu einer weiteren Handlung, die in irgendeiner Weise auf die Folgen der ersten Handlung antwortet. Im besten Falle ist diese Antwort eine wiedergutmachende, versöhnende, die die negativen Auswirkungen der ersten Handlung einhegt oder Schäden in Ordnung bringt. Nennen wir dies die negative Verantwortung, da sie wesenhaft reaktiv ist, wodurch sie in die Nähe der Schuld rückt. Die Übernahme dieser Form von Verantwortung kann ich zwar von mir weisen, jedoch steigert diese Abweisung in den meisten Fällen die mir zugeteilte Strafe.

In einigen Punkten ähnlich, jedoch dem Wesen nach verschieden ist beispielsweise die Verantwortung für das Führen einer Freundschaft. Sobald ich beginne, mein Leben intim und ehrlich mit anderen Lebewesen zu teilen, übernehme ich Verantwortung und zwar, indem ich mich im Vorhinein zur Antwort verpflichte. Ich erkläre meine Bereitschaft, antworten zu werden für eine große Anzahl von Fragen, die an mich herangetragen werden könnten. Diese Verantwortung ist - wenn man das zumindest für den Alltag heute noch so sagen darf - die weitaus tugendhaftere, da ich mich selbst dem Anderen mehr aussetze. Diese Verantwortung mag also die positive heißen, da sie aktiv und bejahend auf den Anderen zugeht und sich ihm zur Antwort öffnet. Hier ist also das Moment der Übernahme noch stärker, da ich nicht durch Androhung von Strafe dazu genötigt werde, sondern mich aus freien Stücken dazu entscheide. Gleichfalls ist auch hier die vorgängige oder nachträgliche Abweisung möglich, je nachdem ob ich mich nie eine Freundschaft einzugehen getraue oder ob ich während der Freundschaft nicht mehr bereit bin, die Verantwortung dafür zu übernehmen.

Beide Fälle, negative wie positive Verantwortung, teilen also jenes aktive, bejahende Moment der Übernahme, in dem man sagt: "Ich bin verantwortlich." oder "Ich werde verantwortlich sein." Gleichfalls teilen sie das Moment der Ablehnung von Verantwortung, jenes: "Dafür bin ich nicht (mehr) verantwortlich." Vorausgesetzt ist also in beiden Fällen ein handlungsmächtiges, selbst-wirksames Ich, das übernehmen und von-sich-weisen, das entscheiden kann. Wir würden finden, dass die Verantwortung von etwas anderem abhängig ist, dem entscheidungsfähigen Ich, das entweder antwortet oder schweigt. So läge der Sinn der Verantwortung außerhalb ihrer selbst, denn das Ich, so es zur Entscheidung fähig ist, kann frei wählen, nach welchen Maßstäben und Werten es verantwortlich sei oder - anders gesagt - worauf es antworte. Die Wertungen, die zur Entscheidung führten, kämen anderswo zustande, in ökonomischen Erwägungen, politischen Diskussionen, philosophischen Gedanken o.ä. Jeder käme zu verschiedenen Schlussfolgerungen, die Verantwortung wäre relativ, bis hin zum Spruch, dass man ja ohnehin nur verantwortlich für die Mitglieder seiner Familie, seines Volkes, gar seiner Rasse sei - an welchem Punkt die Barbarei beginnt.

Von solcherlei Abwägungen werden wir zur Frage geleitet: Gibt es eine unübernehmbare Verantwortung? Gibt es eine Verantwortung, für die ich mich nicht entscheiden kann, die mir schon vor meiner Freiheit zugeteilt wurde? Gehen wir zum Beispiel eine Straße entlang und bemerken ein kleines Kind auf einem Laufrad, das den Bürgersteig entlangfährt. Wir sehen uns nach den Eltern um, doch sehen wir sie nicht und da befällt uns ein mulmiges Gefühl, möglicherweise gehen wir etwas langsamer oder bleiben gar stehen und halten uns bereit dafür, einzugreifen und für das Kind - Verantwortung zu übernehmen? Wäre auch hier also wieder ein Moment der Übernahme? Zweifelsohne, denn uns fällt es doch ungleich leichter, die Verantwortung für einen Mensch ohne Obdach am Straßenrand von uns zu weisen als für jenes Kind, also gibt es eine Abwägung, eine Entscheidung. Doch sind wir nicht vorschnell vorgegangen? Wie nämlich steht es um dieses mulmige Gefühl, von dem wir befallen wurden? Ist es nicht Teil jener Szenerie der Verantwortung? Antworteten wir nicht auf jenes Gefühl, indem wir es übernahmen? Was ist aber dieses Gefühl selbst?

Pünktlichkeit

Jeder Mensch lebt nach seiner eigenen Zeit und für jeden Menschen hat die Zeit eine andere Dauer. Jede Minute mag für den einen länger als für den anderen sein und auf einer sonnigen Wiese liegend flimmert und verschwimmt die Zeit in der Mittagshitze. Die Uhrzeit, das stetige Tik Tak von Minuten und Sekunden, ist ein Maß, das die erlebte Zeit des einzelnen Menschen also nicht von sich aus kennt. Eine Uhrzeit gibt es bloß dort, wo mehrere Menschen sind. Je nach Blickpunkt verbirgt sich in der Uhr ein vertragliche Übereinkunft dieser Menschen untereinander oder eine Methode zur Disziplinierung, mit der manche den anderen ihre Zeit aufzwingen können. Welches von beiden auch stimmt: Im Blick auf die Uhr sind die anderen Menschen gegenwärtig. Treffe ich mich zu einer bestimmten Zeit mit einem anderen Menschen, sind wir also beide pünktlich, versichern wir uns dieser Uhrzeit, also unserer gemeinsamen, gleich-zeitigen Gegenwart. Die Pünktlichkeit ist das Sich-verpflichten auf die Gleichzeitigkeit.

Diese Verpflichtung ist jedoch keineswegs neutral. Sie setzt immer voraus, dass der Einzelne die sonnige Wiese verlassen hat, dass er die Dauer seiner eigenen Zeit, die Ruhe und Schnelligkeit seines ganzen Gefühlslebens verschwinden lassen und in das gleichförmige Tik Tak des Zeigers aufgehen lassen muss. Das Erdrückende der pünktlichen Abgabe einer Hausarbeit, des pünktlichen Erscheinens auf der Arbeit oder beim Arzt ist gerade, dass die Dauer des eigenen Lebens gleichförmig wird und fortan nach einem schicksalhaften Gesetz verläuft: der unerbittlichen Mechanik der Uhr. Durch diese verpflichtende Pünktlichkeit wird die Gegenwart, die Gleichzeitigkeit mit den anderen Menschen zum Zwang: Niemand lebt nach seiner Zeit, alle leben in der Niemandszeit.

Gibt es denn eine andere als die verpflichtende Pünktlichkeit? Welcher Art ist z.B. die Pünktlichkeit unter Freunden? Ist sie die Versicherung, dass die geteilte Zeit gleichförmig nach dem Zeiger zu verlaufen habe? Oder beruht diese Pünktlichkeit nicht vielmehr auf der Möglichkeit, die Zeit auf der sonnigen Wiese, die Dauer und Tiefe des eigenen Lebens zu teilen? Die Pünktlichkeit unter Freunden ist zwar wie jene andere Pünktlichkeit der Arbeit auch ein Zusammenkommen in der Zeit. Sie ist jedoch keine Verpflichtung auf eine Uhrzeit, durch die die Gleichzeitigkeit hergestellt wird. Die Pünktlichkeit unter Freunden ist ein Versprechen, dass ein anderer Mensch für meine eigene Zeit und das dazugehörige eigene Empfinden offen sein kann. Aus dieser Pünktlichkeit entspringt keine Gleichzeitigkeit, sondern geteilte Dauer. Diese Pünktlichkeit wird nicht am Anfang des Zusammenkommens durch die Uhr zugesichert. Sie ist die stetige Offenheit des Einen für die Zeit des Anderen.

Öffentlichkeit

In der Öffentlichkeit, insbesondere in Räumen, in denen viele andere Menschen sind und aus denen sich der Andere ohne größere Schwierigkeiten nicht entfernen kann, ist unter allen Umständen Zurückhaltung geboten. Das ist nicht bloß ein Gebot der Höflichkeit - es ist ein Zeichen der Vornehmheit. Welcher Art ist aber diese Zurückhaltung? Soll man eben für sich bleiben, ganz bürgerlich jeder sein eigenes Küchelchen backen, im Zweifelsfall eher wegsehen, die Vorhänge zuziehen? Wenngleich es bisweilen scheint, als sei diese prüde und diskrete Bürgerlichkeit der allgemeinen Überflutung der Öffentlichkeit mit Trennungstelefonaten, aus Handys plärrenden Videos, Kindergeheule über ein nicht gewährtes zweites Eis, lauten und geschmacklosen Männergesprächen und anderweitigen Privatheiten noch vorzuziehen, ist das doch keineswegs so. Verschwiegenheit und Verdrängung sind keine respektablen Umgangsformen, nicht sich selbst und keineswegs dem Anderen gegenüber. Dass das Private zu einem solch integralen Bestandteil der Öffentlichkeit geworden ist, liegt ja andersherum auch daran, dass die Öffentlichkeit, der Staat und die Regierung alle privaten Lebensbereiche mit Gesetzen und polizeilichen Maßnahmen auf unwiderrufliche Weise durchdrungen haben. Die Trennwand zwischen Privatem und Öffentlichem ist gefallen und was fällt, soll man schließlich noch stoßen.

Die gemeinte Zurückhaltung muss also eine andere sein.

Oberflächlichkeit

In einem Gedicht heißt es:

mein ich in aller welt

trägt eine haut wie blumen.

Was mag das heißen? Was ist dieses Ich, das in aller Welt ist? ich ? das sage ich. Hier. Jetzt. Ich bin dieses Hier und Jetzt, jedesmal, wenn ich ich sage. Ich liege auf der Wiese, ich lese ein Buch, ich tanze, ich lache, jedesmal ich, Hier, Jetzt. Auch wenn ich sage: „Ich habe getanzt“, meine ich ja doch, dass da ein Hier und Jetzt und ein Etwas im Hier und Jetzt war, und dieses Etwas bin ich, zwar vergangen, doch einmal gegenwärtig gewesen und weil es gegenwärtig war, ist es ich, bin es ich. Wenn ich ich sage, meine ich damit stets ein Etwas, das gegenwärtig ist, im räumlichen und zeitlichen Sinne. ich ist diese Ankettung an die Gegenwart. Im ich-Sagen kette ich mich an an die Gegenwart mit mir selbst. Ich komme nicht raus, bin eingeschlossen in die Innerlichkeit, die Intimität mit mir selbst. Hier. Jetzt.

Nun heißt es jedoch im Gedicht nicht: „mein ich im Hier und Jetzt“, sondern: „mein ich in aller welt“. Der Dichter spricht von einem ich, das die Ankettung an die Gegenwart mit sich selbst durchbrochen hat. Er nennt ein ich, sein Ich, als eines, das in aller Welt ist. Das mag heißen, dass es überall ist, an fernen Orten, irgendwo oder nirgendwo – Hier und Jetzt ist es nicht. Würde der Dichter nun sagen: „ich bin in aller welt“, wäre das ganz sinnlos, denn im Wörtchen ich wäre ja ein Bezug auf das Hier und Jetzt stecken und das schlösse die Möglichkeit aus, in aller Welt zu sein. Dies sagt er aber nicht, sondern jenes: „mein ich in aller welt“. Das Wörtchen mein übernimmt hier die Rolle der bescheidenen Ankettung, des Nicht-über-sich-hinauskönnens, denn indem der Dichter mein sagt, verweist er ja auf (s)ich in seiner Gegenwart. Durch das mein befreit der Dichter (s)ich, er macht aus dem ich, das nicht in aller Welt sein kann ein Ich, das dies vermag.

Nun können wir bedenken, was es denn heißt, vom eigenen Ich zu sprechen und damit eine Trennung zwischen ich und Ich zu eröffnen. Wenn einer sagt: mein Ich, meint er dann so etwas wie seine Persönlichkeit, seine Individualität oder desgleichen? Meint er gar etwas wie seinen Wesenskern? Wenn wir im Alltag einen hören, der von seinem Ich spricht, dann können wir wohl häufig eine solche Bedeutung annehmen. Dürfen wir hier aber etwas Ähnliches vermuten? Keineswegs. Der Dichter spricht von seinem Ich als einem, das in aller Welt sei. Meint er wohl, sein Ich sei überall, an allen Orten? Vielleicht ist dies eine der Bedeutungen. Er sagt aber, es sei in aller Welt, in der Welt aller, aller anderer Menschen, ein Ich, verstreut in die Welt aller Anderen, ein Allerwelts-Ich. Hören wir die schöne dichterische Doppeldeutigkeit, dann ist hier nicht bloß ein Ich gemeint, das sich räumlich überall befindet und so gelöst ist vom Hier und Jetzt desjenigen, der ich sagt, sondern auch ein Ich, das keinerlei auszeichnende Qualitäten hat, keine Besonderheiten, nichts Einzigartiges, Individuelles, keinen inneren Kern. Hörten wir im Wort des Dichters von seinem Ich bloß so etwas wie den Bezug auf seine Persönlichkeit, liefen wir ganz an dem vorbei, worauf er hindeuten will. Die dichterische Befreiung aus der Ankettung an sich selbst, die dem ich-Sagen zugrunde liegt, ist nicht der Versuch, diese Ankettung heroisch auf sich zu nehmen und aus der Faktizität des Nicht-vor-sich-selbst-fliehen-könnens eine Auserwählung des Einzelnen zu machen, der er sich würdig erweisen muss.

Die dichterische Befreiung des ich führt zum Allerwelts-Ich, das die Innerlichkeit, die Intimität mit sich selbst mit der vollkommenen Äußerlichkeit, der Exteriorität oder Fremdheit vertauscht – ganz Außen, verschwommen im, verloren an das Außen, an die allerweltliche Oberflächlichkeit. Zwei betrübliche Wege hält der erste Vers also bereit: Hier die Ankettung an sich selbst, unfähig herauszukommen, immer wieder bloß ich, ich, ich zu sagen und sich selbst dabei gegenwärtig sein zu müssen. Dort das Sprechen vom Ich-in-aller-Welt, das im Außen nirgendwo Fuß fassen kann, sich selbst fremd wird, sich selbst verliert an die Oberflächlichkeit.

Werfen wir an dieser Stelle einen Blick auf den zweiten Vers. Dieses Ich-in-aller-Welt, das sich seiner Ankettung an sich selbst entledigt hat, nur um sich im Außen zu verlieren, trägt eine Haut wie Blumen. Beginnen wir mit dem vorderen Teil: Was heißt es, eine Haut zu tragen? Was ist eine Haut? Zuerst ist die Haut außen, stets außen, der Welt zugeneigt, den Dingen versprochen. Berührungen – über Berührungen gehen von ihr aus und nimmt sie auf. Ein Windhauch, ein Regentropfen, ein Kuss, alles berührt mich mehr als ich je zu verstehen imstande sein werde. Eine Haut ist reine, andauernde, überwältigende Berührung und Empfindung, purer Kontakt und Übergang zur Welt. Gäbe es keine Kleidung, keine Abstumpfung, keinen Schutz gegen diese „Hautlichkeit“ des Daseins – wäre allen immer alles zu viel. Eine Haut zu tragen heißt vor allem, sie zu er-tragen, diese reine Ausgesetztheit, diese Passion der Welt. Hören wir die Nähe zum ersten Vers? Die Haut verkörpert gerade die abstrakte Erfahrung des Sich-Verlierens an die Oberflächlichkeit des Ichs-in-aller-Welt. Die Oberflächlichkeit ist die Abstrahierung der Hautlichkeit. Sind die Worte zur Haut also bloße Explizierung des Vorhergehenden? Sind sie nicht etwas mehr? Der erste Vers stellte uns vor die abstrakte Wahl zwischen dem selbstgenügsamen, abgeschlossenen ich und dem sich-verlierenden, offenen Ich-in-aller-Welt. Ist es zuviel zu sagen, dass der Dichter sich durch die Anrufung der Haut für letzteres entscheidet? Ich denke nicht. Es gilt aber nun zu verstehen, was den Dichter zu dieser Entscheidung bringt. Die Haut nämlich, um die es dem Dichter geht, ist keine gewöhnliche Haut, sondern eine Haut „wie Blumen“.